monomorium pharaonis


Charun lächelte. Früher, früher hatten die Menschen eine Ahnung besessen von der wirklichen Welt. Sie hatten ihm viele Namen gegeben: "Schnitter", "Gevatter". Hinter einer einfachen Wahrheit steckt stets eine Lüge. Natürlich war die Realität wesentlich verwickelter. Das menschliche Empfinden von Kausalität war nur eine von ihren vielen Illusionen: Zeit, Bewegung, Bewußtsein. Die alten Mythen konnten somit nur Zerrbilder liefern, versuchen, die verschwommenen Visionen zu deuten, das Unerklärbare zu erklären. Inzwischen hatte man Charun und die anderen vergessen. Man hatte das Spiel vergessen.

Doch heute ging es um ein Leben. Leben war das einzig Reale im Nebel der Illusionen, die den Verstand der Menschen umwölkten. Leben war eine Konstante, die Lichtgeschwindigkeit der Metaphysik. Es würde einfach sein. Gerade hier, in diesem neuen Tempel des Lebens, den die Menschen in ihrer Verblendung errichtet hatten. Sie hatten die Demut verlernt, hatten verlernt, sich vor den mächtigen Schatten zu verbeugen. Auf jeder strahlend weißen Kachel, auf jedem blitzenden Edelstahl, auf jedem grünen Kittel prangte in blutigen Arabesken das Symbol der Hybris.

Charun bemerkte, daß er nicht recht bei der Sache war. Ja, das Opfer war erwählt und gebunden. Ja, Charuns Vollstrecker war bereit. Der abtrünnige Arzt mit dem schwarzen Fleck auf der Seele hatte wieder getrunken, so daß seine Hände nicht mehr zittern mußten. Er hatte, ohne es zu wissen, schon oft gedient. Seit er den ersten Fehler beging und vor den anderen verbarg, seit er den alten Eid gebrochen, seit sich das Wissen um sein Versagen, seine Schuld immer tiefer in seinen gequälten Geist hineingefressen hatte, hatte er Charun sechs Opfer dargebracht. Doch Charun wollte sicher gehen. Und er hatte ein Werkzeug gefunden: Er hörte das Wispern eines primitiven, unbewußten, multiplen Geistes.

Charun sah nach dem Opfer. Eine junge Frau, bleich, schön und unschuldig. Ein edles Wesen. Eine Königin. Sie lächelte in ihrem künstlichen Schlaf. Aus Schlaf kann Tod werden. Wer das Leben beherrscht, besitzt Macht. Nur wer Macht besitzt, kann in der wirklichen Welt bestehen. Dort droht den Schwachen schlimmeres als nur der Tod, dort winkt den Mächtigen mehr noch als das Leben. Charun konnte sich im Spiel keine Fehler erlauben. Sie war sein Trumpf.

Es begann. Er tauche in einen wimmelnden Strom von Geistessplittern ein, in einen Schwarm aus bunten Pheromonen und schimmernden Reflexen. Ein Bild, gemalt von tausend Pinseln; jeder der Maler war beschränkt und blind, und doch ergab alles ein Ganzes. Denn dieses eine Bild, dieses beeindruckende Mosaik war den Blinden seit Äonen unermüdlich gelehrt worden. Die Menschen nannten jenen gestrengen, ja barbarischen Lehrmeister "Evolution", doch Charun wußte, wie wenig sie von der schrecklichen Erhabenheit dieser gewaltigen Entität erfaßt hatten.

Nachdem Charun gelernt hatte, sich in dem filigranen Wirbel aus zuckenden Gedankenblitzen zu orientieren, tauchte er tiefer, immer tiefer. Er suchte eins zu werden mit einem der Atome dieses Staates, versuchte, in den Geist einer einzigen Arbeiterin einzudringen, sie zu kontrollieren. Es war schwieriger als erwartet: Die Kolonie war eins, der Funken eines Individuums so unglaublich schwach, die Bindung, die chemischen Bänder des Staates so stark, daß sich Charun zu verlieren glaubte, sich in tausend Charuns zerrissen glaubte im wilden Taumel seiner mentalen Attacke, die sich nun gegen ihn selbst zu richten schien. Mit letzter Kraft, mit einem letzten verzweifelten Angriff durchbrach er die Barriere eines Individuums, das ihm weniger Widerstand bot als die anderen. Er tauchte in das Auge des Sturms, in das schwache Selbst einer einzelnen Ameise, einer Arbeiterin.

Es dauerte geraume Zeit, bis Charun sich zu orientieren vermochte. Sechs Gliedmaßen, zwei Mandibeln, zwei Fühler und Rundumsicht durch zwei Komplexaugen. Seine ersten zaghaften Steuerungsversuche brachten das Tier völlig aus dem Takt. Schließlich lernte er, nicht mehr in solchen Kategorien wie "linkes vorderes Bein" zu denken, sondern einfach "vorwärts" oder "stoppen" zu befehlen. Es schien gerade so, als ob die Arbeiterin selbst von ihren Beinen nichts wüßte. Charun machte sich auf den Weg in den Operationssaal.

Charun kam nicht umhin, das Geschick und die Ausdauer seines Mediums zu bewundern. Die Arbeiterin war durch einen winzigen Riß in der Wand in den Operationssaal eingedrungen. Nach einer kurzen Rast, die Charun zur erneuten Orientierung nutzte, lenkte er die Arbeiterin zu dem Wagen mit dem Operationsbesteck hin. In größerer Entfernung schienen Menschen zugegen zu sein, aber es war sehr unwahrscheinlich, daß sie die Ameise sehen würden. Fliese für Fliese krabbelte die Arbeiterin dem Wagen entgegen. Dort angekommen war sie einen Moment lang verwirrt, bis es Charun gelang, sie davon zu überzeugen, daß sich hoch oben Futter befinden würde. Die Arbeiterin lief die senkrechte Wand aus Edelstahl mühelos herauf. Da lagen die Instrumente, zwar irrwitzig verzerrt und scheinbar aus einzelnen Mosaiksteinchen zusammengesetzt, aber dennoch deutlich zu erkennen: verschiedene Scheren, ein Messer namens "Skalpell" mit scharfer Klinge und andere Geräte, deren Namen Charun nicht kannte.

Was nun? Charun ließ die Arbeiterin an der Klinge des Messers auf und ab laufen, ganze dreizehn mal. Konnte er nun sicher sein? War er am Ziel? Wäre es nicht besser, noch eine andere Ameise herzuholen, um jedes Risiko auszuschließen? Doch Charun kam ein besserer Gedanke, ein perfide Idee, die seinem dunklen Geiste wirklich würdig war. Nahrung! Nahrung! Er schrie es in den Geist der Arbeiterin hinein, brüllte so lange, bis sie völlig verwirrt umherzutänzeln begann. Dann zog er sich aus seinem Medium zurück und schaute ihr lachend hinterher. Bald würde es hier vor Ameisen wimmeln.

Doch was war das? Charun spürte einen fremden Einfluß, spürte die Sphären wirklicher Wesen. Sich langsam wieder an die gewohnte Art des Sehens gewöhnend, sah er drei düstere Flecken auf den Ventilen der Gasflaschen hocken. Nein, nicht die Drei, nicht die Ehrwürdigen! Sie sahen auf ihn und schwiegen. Was wollten sie hier? Das Opfer hatte nicht gemordet, seine Seele war rein. Was führten die Grollenden im Schilde? Hatten sie ein Recht, ihm seine Beute streitig zu machen? Doch was konnten sie ausrichten? Der Henker war bereit, das Opfer war gebettet, die Klingen verseucht. Da! Die ersten Ameisen krabbelten schon über die Fliesen.

Charun hätte noch gern nach dem Doktor gesehen, doch jetzt, nach dem Erscheinen der Ehrwürdigen, schien es klüger zu sein zu verweilen. Ungeduldig sah er den Ameisen zu. Zwei. Sieben. Zwölf. Die ersten erreichten die Instrumente, krabbelten aufgeregt umher, suchten das versprochene Futter. Ja, sucht! Sucht es! Ihr werdet belohnt! Ich schenke euch das Fleisch, wenn ich die Seele habe!

Die Stunde rückte heran, ohne daß sich die Grollenden um ein Haar bewegt hätten. Charun drang ganz oberflächlich in die Gedanken der Kolonie ein und verscheuchte die Arbeiterinnen: Gefahr! Schon ließen sie von Ihrer Suche ab und kehrten ängstlich heim in ihren Bau. Ja, Furcht zu verbreiten war das allereinfachste, viel leichter, als etwas wirklich zu beherrschen.

Die ersten Kittel erschienen. Apparate wurden eingeschaltet, eingestellt. Kanülen wurden bereitgelegt, Tupfer und Tücher. Die neuzeitliche Zeremonie weckte Charuns Spott: Ihr könnt nicht gewinnen! Ja, er fand wieder zu seinem Selbstvertrauen. Spielen wir das Spiel, komme, was wolle. Ich habe meine Züge weise gewählt, dunkle Schwestern, ich habe geackert und gesät. Ihr hockt nur da und hofft auf die Ernte, doch sie ist mein! Sie ist meine Beute, meine!

Das Opfer wurde in den Saal geschoben. Einer der wenigen menschlichen Edelsteine. Eine Königin. Sie hatte mit ihrer Schönheit keinen verblendet, darum war sie schön. Sie hatte durch ihrer Stärke niemanden verletzt, deshalb war sie stark. Sie hatte ihre Macht nicht mißbraucht, deshalb war sie mächtig. Charun würde heute ihre Seele rauben. Bald würden sich die Ehrwürdigen vor ihm beugen müssen. Schon bald!

Und die beschränkten Menschen würden nicht einmal erkennen, wieviel sie verloren hatten, wieviel stärker er geworden war. "Schicksal" würden sie es nennen. Ein einziges Wort für dieses komplexe Geflecht aus Krallen und Knochen, ein Wort für diese gigantische Maschine aus Klingen und Zähnen, um deren kleinsten Hebel in der Wirklichkeit schon die grausamsten Kriege geführt wurden. Ein einziges Wort für das Spielfeld des Spiels!

Der Henker betrat den Saal. Niemand schenkte dem glasigen Blick hinter der Goldbrille Beachtung. Der Mundschutz verbarg das Beben der blutlosen Lippen. Nur die Hände, die von allen gesehen werden konnten, die Hände waren ruhig. Sie hatten ihren Teil bekommen: Den Trunk, das einzige, was sie zu beruhigen vermochte.

Er hatte viel geleistet. Er konnte mehr Erfolge vorweisen, als die meisten anderen. Er würde auch diese Operation meistern, wie die vielen zuvor. Gewiß, nicht immer konnte er gewinnen, nein, auch der berühmte Chirurg mußte sich hin und wieder geschlagen geben. Doch das gehört in diesem Beruf dazu, damit muß man fertig werden.

Diese Naivität, dieser Selbstbetrug erheiterte Charun. Wie leicht sich diese Geschöpfe belügen ließen. Wie sicher sie die Lügen glaubten. Wie willig sie sich zu Werkzeugen machten. Jetzt, jetzt nahm er das Messer "Skalpell" und wog es in seiner rechten Hand. Diese dummen Menschen! Selbst Ameisen, selbst die winzigen Ameisen erkennen ihre Königinnen und erweisen ihnen Respekt. Doch die Menschen...

Gleich würde er schneiden! Gleich würde Charun triumphieren!

Die drei Schwestern flattern auf. Ihr Gekreisch läßt Charun unwillkürlich zurückweichen. Wie schwarze Wolken umkreisen sie das Haupt des Vollstreckers. Schnäbel, Krallen aus einer anderen Dimension hacken auf den Schädel ein. Der Chirurg taumelt. Er faßt sich mit seiner linken Hand an die Stirn und stöhnt. Ein Blutstropfen fällt auf den Boden und bildet einen winzigen roten See in der grellweißen Ebene. Die Arbeiterinnen hasten vorbei, ohne die proteinreiche Nahrung zu beachten, denn das nackte Grauen, das Charun heraufbeschworen hatte, treibt sie heim in ihr Nest.

"Herr Professor, was ist mit Ihnen?"
"Es..., es geht schon. Alles in Ordnung. Das ist mir noch nie passiert."
Verwundert deutet der Assistenzarzt auf das blutige Zeichen auf der Stirn des Henkers.
"Sie müssen sich geschnitten haben."
"Mist! Ein Schnitt! Hier, in der linken Hand! So ein verdammter Mist!"
"Vielleicht wäre es besser..."
Ein mürrischer, mißtrauischer Blick des Henkers.
Charun ringt um die Kontrolle. Vergeblich. Er spürt, wie sie ihm entgleitet.
"Mmm, ja. übernehmen sie, wenn sie wollen."
Nein! Nein, nicht weggehen! Bleib hier, Henker! Nein, nicht doch!
"In Ordnung, Herr Professor."
"Sollte ja keine Probleme geben. Wenn was ist, piepsen sie mich an."
Eine Schwester legt das alte Skalpell in eine Schale und holt ein neues.

Der Vollstrecker rauscht hinaus. Sein Kopf dröhnt wie eine gesprungene Glocke. Bevor er sich von einer Schwester ein Pflaster auf den verdammten Kratzer kleben läßt, nimmt er erst einmal einen kräftigen Schluck. Schwächeanfall, Kopfschmerzen. Pah! So eine Blamage! Das darf bei der nächsten OP nicht nochmal passieren! Von der Spindtür glotzt ihm sein Spiegelbild entgegen: Ein alter, bleicher Totenschädel mit einem blutigen Mal auf der Stirn.

Charun brüllt, als er in die wirkliche Welt zurückkehrt. Die drei Schwestern verfolgen ihn. Schon knarrt es im Gebälk der Dimensionen, schon verschieben sich Potentiale gemäß der neuen Machtverteilung. Die Karten des Spiels werden neu gemischt. Die Folgen des Versagens sind noch nicht abzusehen. Angenehm sind sie mit Sicherheit nicht.

Die Königin erwacht aus einem wirren Traum von Ameisen, schwarzen Flügeln und finsteren, bizarren Wesen, die an Gerippe erinnerten. Sie hatte solch seltsame Träume schon des öfteren. Sie versucht, sich zu beruhigen.

Hunderttausende Streptokokken beginnen mit der Teilung. Ihre warme und nährstoffreiche Umgebung bietet ideale Lebensbedingungen.

Ein junger Arzt fragt die Patientin nach dem Befinden. Dann teilt er ihr mit, daß die Operation gut verlaufen ist. Sie ist unruhig, fragt. Nein, keine Komplikationen.

Einige Arbeiterinnen der Spezies monomorium pharaonis kehren von einer erfolglosen Nahrungssuche in ihre Kolonie zurück. An ihre Furcht können sie sich schon nicht mehr erinnern.

Nichts deutet auf die vorangegangene Schlacht hin. Die Menschen werden später von "Schicksal" sprechen. Sie sind glücklicher mit ihren Illusionen.

Nur die Königin kann das unbestimmte Gefühl nicht loswerden, einer großen, dunklen Gefahr entronnen zu sein.