Endlich Feierabend


Es war ein sonniger Dienstagnachmittag und die Vögel zwitscherten. Der Himmel war so blau und die Sonne strahlte, dass man sich eher in Spanien als in Deutschland wähnte.

Vor allem dieser Umstand war schuld daran, dass sich die Zeit bis zum Feierabend ins Unermessliche zu dehnen schien.

Bertram Klein kämpfte verzweifelt mit seinem Computer. Immer wieder musste er sich seine schwitzenden Hände an der Hose abwischen, immer wieder die Stirn mit seinem Taschentuch abtupfen. Wenn doch endlich Schluss wäre! Seit einer Woche hatten sie neue Rechner mit neuen, angeblich besseren Programmen. Ob das wirklich so war, konnte Bertram nicht beurteilen. Er wusste nur, dass die Importfunktion nicht richtig funktionierte und er diese endlosen Zahlenkolonnen einzutippen hatte, damit man endlich mit dem neuen System arbeiten konnte.

Mirko surfte gerade im Internet, denn er war längst mit seiner Arbeit fertig. Er hatte ein wenig herumprobiert: Man mußte den Report als Tabelle abspeichern. Die konnte man mit Excel öffnen, die Spalten umsortieren und Sonderzeichen rausschmeissen. Dann im CSV-Format speichern, aber unbedingt mit Semikolon als Trennzeichen. Die so aufbereiteten Dateien machten keine Probleme mehr beim Import.

Natürlich wäre Klein nie auf so etwas gekommen. Und Mirko half ihm nicht, denn er konnte Bertram nicht leiden. Es ist nicht nur sein Äußeres. Einige meiner Kumpels sind auch nicht viel schlanker. Was mich stört ist, daß er immer so hektisch und gehetzt wirkt. Dabei schwitzt er wie ein Schwein. Und dann seine übervorsichtige, dienstbeflissene Art. Immer will er allen alles recht machen. Nun, er ist sicher keine Leuchte. Aber eigentlich hätte er die Kriecherei gar nicht nötig, bei dem Pensum, das er leistet. Die andern nutzen ihn nach Strich und Faden aus. In Mirko regte sich fast so etwas wie Mitleid. Der Gute hat sicher mächtige Minderwertigkeitskomplexe. Trotzdem konnte er sich nicht überwinden, Klein den Trick mit dem Report zu zeigen. Der Gedanke an verschwitzte Hände, dümmliche Fragen und peinlich-überschwenglichen Dank hielt ihn zurück.

Eduard Ballschneider war eigentlich kein übler Chef. Allerdings hatte er seiner kleinen Tochter fest versprochen, mit ihr heute in den Zoo zu gehen.

Ich gebe zu, es ist nicht ganz fair. Aber ich brauche die Mappe unbedingt. Klein hat sich noch nie beschwert und ist immer sehr akkurat.

"Und wie läuft es mit der Umstellung?"

Bertram zuckte bei der Frage seines Chefs zusammen, denn er hatte Ballschneider nicht kommen hören. Mirko konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen. Jetzt will der Alte was von ihm.

"Gut, ich habe schon über die Hälfte geschafft.", versicherte Bertram eilig, nach dem er die Schrecksekunde überwunden hatte. "Morgen bin ich damit durch."

"Sehr gut. Ich hätte allerdings noch eine kleine Aufgabe für sie. Sie wissen ja, dass Frau Meißner krank ist. Ich brauche unbedingt morgen früh diese Präsentationsmappe. Wären sie so freundlich, das zu laminieren und zu heften?"

Ballschneider legte die Mappe mit den losen Blättern auf Bertrams Report.

Bertram blickte seinem Chef in die Augen, nur einen Sekundenbruchteil.

Doch dieser winzige Augenblick reichte aus, um Ballschneider zurückprallen zu lassen. Klein hatte ihn angestarrt, mit einem Blick voller Zerstörungswut und grenzenlosem Hass. Sicher, in Bertrams ausdruckslosem Gesicht hatte nicht einmal ein Muskel gezuckt. Doch das kalte Glitzern dieser Augen genügte, um Ballschneider auf den irrwitzigen Gedanken zu bringen, dass ihn Klein jetzt töten, nein, zerfetzen würde. Dieses Gefühl war so überwältigend, daß sich Ballschneiders Herz schmerzhaft zusammenkrampfte.

"Sicher. Ich lege die Mappe dann auf ihrem Schreibtisch."

Ballschneider brauchte einen Moment, bis er den Sinn der Worte erfasst hatte. Der Tonfall war ruhig und sachlich, verständlicherweise ohne Begeisterung, aber auch ohne jede Feindseligkeit oder gar Aggressivität.

"Ja, danke. Vielen Dank.", stotterte Ballschneider und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort.

Mirko fiel das seltsame Verhalten seines Chefs nicht auf, denn er war damit beschäftigt, seinen Kram zusammenzupacken und den Rechner herunterzufahren. Geschafft! Bloß raus hier. Etwas verlegen murmelte er: "Bis morgen!" und verschwand.

Bertram Klein keuchte. Er starrte auf die überquellende Mappe und sein Gesicht verzerrte sich zu einer furchtbaren Grimasse. So saß er mehrere Minuten da.

Schließlich raffte er die Papiere zusammen und schlurfte an den Platz von Ballschneiders Sekretärin.

Fast anderthalb Stunden nach offiziellem Dienstschluss verließ Klein das verhasste Gebäude. Er wirkte schlaff und ausgelaugt, als müsse er sich zu jedem einzelnen Schritt zwingen.

"Schönen Feierabend, Herr Klein!", wünschte der Pförtner. Es klang aufrichtig. "Danke, ihnen auch.", antwortete Bertram etwas abwesend.

Dem Klein drücken sie wirklich alles aufs Auge. Ist ein ganz netter Kerl, auch wenn er unbedingt abspecken sollte. Das ist diesen Monat schon das fünfte Mal, dass er der Letzte ist, der geht. Aber so ist es eben: Es trifft immer die Gutmütigen.



* * *


Klein schloss seine Wohnung auf, trat ein und schloss die Tür wieder ab. Er sah grau und verbraucht aus. Widerwillig streifte sein Blick den billigen Läufer, das wacklige Tischchen mit dem Telefon und die geschmacklos gemusterte Tapete. Grauenhaft.

Zielstrebig durchquerte er den Flur. Die Tür am gegenüberliegenden Ende war mit dem kitschigen Poster eines österreichischen Urlaubsortes geschmückt. Wieder schloss er die Tür auf, schlüpfte hindurch und schloss hinter sich ab. Der Raum war groß und finster. Bertram schien den widerlichen Geruch nicht wahrzunehmen.

Eines Tages werden sie auch mich erwischen.

Er entkleidete sich. Die Sachen ließ er achtlos in den Dreck fallen, der den Boden bedeckte.

Ich halte das nicht länger aus. Tag für Tag dieses Versteckspiel, diese Maskerade.

Schließlich stand er nackt da. Hunderte fetter Fliegen umschwirrten ihn.

Seine rechte Hand fuhr vom Scheitel über sein Gesicht, Hals und Bauch.

Heute wäre es fast passiert. Ich hätte diesen dämlichen Kerl beinahe umgebracht. Aber ich darf es nicht. Nicht öffentlich, nicht am Tage, nicht in meinem unmittelbaren Umfeld.

Wo er die Haut berührt hatte, bildete sich ein Riß. Vorsichtig streifte er seine Hülle ab: Zuerst klappte er die Gesichtshälften auseinander, schob die Haut wie eine Kapuze zurück. Dann zog er sie über die eine Schulter, schlüpfte mit dem ersten Arm heraus. Das gleiche mit dem anderen Arm. Danach zog er die Haut von Rücken und Hinterteil. Zuletzt setzte er sich auf einen groben Schemel und befreite seine Beine.

Ich bin der Letzte. Selbst die Heilige Inquisition, die Tausende meines Volkes verbrannt hat, glaubt nicht mehr an meine Existenz. Solange ich keinen Fehler mache, bin ich sicher.

Sorgfältig glättete er die Haut. Dann streifte er sie über einen gewöhnlichen Kleiderbügel, den er an einen großen Nagel hängte. Sofort ließen sich die Fliegen auf der Haut nieder.

Ich muß mich beherrschen. Ich habe viel Zeit. Sie werden bezahlen, das schwöre ich! Und wenn ich warten muss, bis sie in Rente gehen. Sie werden mich noch anflehen. Sie werden darum betteln, dass ich sie töte!

Der Dämon richtete zu seiner vollen Größe auf. Er räkelte sich ausgiebig. Heute würde er nicht auf die Jagd gehen. Nicht, nachdem er sich unter seiner Verkleidung bis zur Erschöpfung gequält hatte.

Seine Krallen knirschten auf dem Boden, als er sich in Bewegung setzte. Vorsichtig stieg er in einen langen, steinernen Sarkophag. Er tauchte vollkommen unter und etwas Blut schwappte über den Rand.

Als er wieder auftauchte, grunzte er so zufrieden, dass der ganze Raum von seiner Stimme vibrierte.

"Endlich Feierabend!"